Eine lange und intensive Freundschaft verbindet die Gemeinschaft Sant'Egidio mit Tamara Ivanovna Chikunova, die heute Nacht in Norana verstorben ist, wo sie in den vergangenen Jahren mit der Gemeinschaft gelebt hat.
Die Freundschaft begann 2002 mit einem Brief über ihren Einsatz für die Abschaffung der Todesstrafe in Usbekistan, worauf dann die Teilnahme an der Gründung der Weltkoalition gegen die Todesstrafe (WCADP) in Sant'Egidio folgte und ein Besuch in Taschkent. Diese Freundschaft ist zu einer engen Verbundenheit gewachsen, in deren Rahmen sich Tamara gegen die Ungerechtigkeit der Todesstrafe engagierte und für viele Jugendliche zum einem beliebten Bezugspunkt geworden ist.
Tamara war Russin, kam bei der Auflösung der Sowjetunion in die usbekische Hauptstadt und bliebt dann in diesem zentralasiatischen Land. 1999 wurde ihr Sohn Dmitrij ungerechterweise zum Tod verurteilt und am 10. Juli 2000 erschossen, er war 29 Jahre alt. Die Mutter wurde nicht über die Hinrichtung informiert und konnte nicht einmal von ihm Abschied nehmen. Auch durfte sie den Leichnam ihres Sohnes nicht bestatten, wie es das usbekische Gesetz für die Todeskandidaten vorsah.
Nach ihrer Familientragödie fällte Tamara die Entscheidung, dafür zu kämpfen, dass sie solches nicht wiederholt. Es wurde die öffentliche Vereinigung der Mütter gegen Todesstrafe und Folter mit anderen Frauen gegründet, die wie sie ihre Kinder durch eine Hinrichtung verloren hatten. Ein mutiger und intelligenter Einsatz zum Rechtsschutz der Verurteilten und für die Abschaffung der Todesstrafe in Usbekistan begann.
Durch den Einsatz und die Vermittlung ihrer Organisation wurden gute Anwälte angestellt, sodass Tamara Chikunova dazu beitrug, das Leben von 23 Todeskandidaten zu retten, indem ihr Todesurteil in lebenslange Haft oder eine andere Haftstrafe umgewandelt wurde. Mit Unterstützung der Gemeinschaft Sant'Egidio auf internationaler Ebene führte sie die Kampagne an zur Abschaffung der Todesstrafe in Usbekistan, die am 1. Januar 2008 erfolgte.
Tamara sprach folgendermaßen über ihre Entscheidung: “Ich war eine kleine besiegte Frau und arbeitete dafür, dass das Leben siegt. Anfang 2002 schrieb ist einen Brief an die Gemeinschaft Sant'Egidio, um Hilfe für mich und meine Mission zu suchen: die Befreiung der Todeskandidaten. Ich danke dem Herrn, denn seit diesem Tage sind wir immer zusammengeblieben! Im Verlauf der Jahre sind Wunder geschehen, wir konnten das Leben vieler junger Todeskandidaten in meinem Land retten. Ich habe wirklich das Zeichen der Liebe Gottes empfangen! Gott hat mir die Kraft geschenkt, all denen zu vergeben, die für die Hinrichtung meines Sohnes verantwortlich sind! Durch diese Kraft zur Vergebung bin ich selbst stärker geworden!”
Inzwischen hatte sich ihr Blick auf andere Länder der Region geweitet, sodass Tamara Chikunova einen wichtigen Beitrag leistete zum Prozess, der zur Abschaffung der Todesstrafe in Kirgisien, Kasachstan und der Mongolei führte.
Tamara spürte die dringende Verantwortung, über ihre Geschichte zu sprechen und sich für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen, wie auch für die Verbreitung einer Kultur des Mitleids und des Lebens und einer Humanisierung der Zustände in den Gefängnissen. Dafür hatte sie ein großes Mitgefühl. Nie wurde sie müde, bei vielen Konferenzen öffentlich zu sprechen bis zur Teilnahme an den internationalen Friedenstreffen und Kongressen der Justizminister, die von Sant'Egidio organisiert werden. Vor allem wollte sie zu den Jugendlichen sprechen, um sich gegen eine Kultur des Hasses und der Rache auszusprechen. Unermüdlich ging sie zu Treffen mit Studenten in vielen europäischen Ländern. Sie war gezwungen, Usbekistan zu verlassen, weil dort ihr Leben bedroht wurde, und fand durch die Gemeinschaft Sant'Egidio in Novara eine neue Familie, die sie 2009 großzügig und mit viel Liebe aufgenommen hat. In Novara lebte sie in diesen vergangenen Jahren, reiste aber auch oft nach Russland und in ihr geliebtes St. Petersburg. Großes Interesse zeigte sich am Leben von Sant'Egidio und war im Geist und in der Freundschaft mit ihr geschwisterlich verbunden.
Tamara war eine großzügige, mutige und unermüdlich aktive Frau, obwohl sie in den vergangenen Jahren krank war, setzte sie sich sehr für die Begegnung mit Gefangenen in italienischen und deutschen Gefängnissen ein, zu denen sie mit leidenschaftlichen und bewegenden Worten sprach. Eine großer Kummer war für sie das einzige europäische Land, das noch an der Todesstrafe festhält, nämlich Weißrussland. Viele Energien setzte sie in diesem Bereich ein und wurde vom Europarat für die Frage der Todesstrafe in diesem Land delegiert. Hinter einem Schleier von Traurigkeit verbarg ihr Blick einen alten Stolz, sie vermittelte das Mitleid, das ihr Leben nach dem Tod ihres Sohnes antrieb.
Als gläubige Frau hinterlässt sie eine Botschaft des Lebens, der Menschlichkeit und des Friedens, wofür wir zutiefst dankbar sind. 2010 sagte sie in ihrem Beitrag in Barcelona beim Friedenstreffen von Sant'Egidio: “Es ist die Zeit, um für die Seelen der Menschen zu kämpfen. Sonst wird die spirituelle Leere sehr schnell mit anderen Ideen angefüllt...". Ihre tiefe Überzeugung bestand darin, dass "Gott kein Richter ist, sondern ein vergebender Vater."