Das falsche Evangelium "Rette dich selbst"

Andrea Riccardi erklärt im Osservatore Romano die "Zusammenkunft der Religionen" in Rom beim Treffen "Niemand rettet sich allein. Frieden und Geschwisterlichkeit"


 

Das falsche Evangelium "Rette dich selbst"

Während man sich immer mehr aus der Distanz über das Internet begegnet, war es da nötig, dass sich die Religionsoberhäupter in Rom bei einem Präsenstreffen begegnen? Ein nüchternes Treffen: Gebet der Religionensgemeinschaften eine neben der anderen an veschiedenen Orten auf dem Kapitol, davon ausgehend haben die Oberhäupter einen Friedensappell ausgesprochen.

In der Basilika Ara Coeli haben die Christen einen Abschnitt aus der Leidensgeschichte nach Markus gehört, in dem Jesus vorgeschlagen wird "sich selbst zu retten". Der Papst sagte: «Das 'Evangelium' des Rette-dich-selbst ist das falscheste apokryphe Evangelium, das den anderen das Kreuz auflädt." Denn es ist das Evangelium des "neuen Individualismus", das zur Grundlage eines großen Teils des sozialen und wirtschaftlichen Lebens geworden ist und bei dem das "Heil" (Erfolg, Selbstschutz, Überleben...) nur für sich ist, ohne auf die anderen zu achten oder gegen sie. Diese Ideologie ist die Grundlage der Nationalismen, der Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg der anderen und gegenüber der Umwelt, die das gemeinsame Haus ist - woran Patriarch Bartholomäus erinnerte.
«Niemand rettet sich allein. Frieden und Geschisterlichkeit»:
so lautete der Titel des von der Gemeinschaft Sant'Egidio organisierten Treffens. Im Respekt gegenüber den Vorsichtsmaßnahmen aufgrund von Covid-19 sind die Gläubigen der Religionen zusammengekommen, um auch sichtbar vor Augen zu führen, dass die Welt nur gemeinsam gerettet wird. Sie wird gerettet, wenn man aus der Gleichgültigkeit erwacht, die oft nur Interesse für sich selbst oder den eigenen Bereich bedeutet. Der Oberrabbiner von Frankreich, Korsia, hat Wiesel zitiert: «Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit». Heute sprechen die Religionen - und das ist eine Neuheit - auf harmonische Weise. Viele Wege haben ausgehend vom Zweiten Vatikanischen Konzil im 20. Jahrhundert zu diesem gemeinsamen Bewusstsein geführt, das 1986 in der durch das Friedensgebet von Assisi herbeigeführten Wende deutlich wurde, das Johannes Paul II. gewollt hat; daher wird vom "Geist von Assisi" gesprochen.

Die Bedeutung der "Zusammenkunft der Religionen" wurde durch den italienischen Staatspräsidenten Mattarella bestätigt: «Das Zeugnis der Religionen ist eine Prophetie, die der Welt helfen kann, aus Gleichgültigkeit, Misstrauen und Groll aufgerüttelt zu werden." Sie beweist, dass eine Sakralisierung von Hass und Gewalt durch religiöse Ideologien "blasphemisch" ist. Das ist keine Hinwendung zum Synkretismus, der nur gut ist für elitäre Alchimie oder die Bildung von Religionsorganisationen, es ist vielmehr das Durchdringen des Lebens der Gläubigen mit einem Geist des Friedens. Denn in der heutigen Welt können viele einerseits Gewalt und Terrorismus verbreiten, andererseits können viele auch Frieden schaffen, auch einfache Handwerker.

Die Welt zeigt immer mehr Gleichgültigkeit gegenüber den "Kriegen der anderen": das ist die Folge der Konzentration auf sich selbst. Es gibt zu viele offene Kriege und viele bittere Folgen, wie die Flüchtlinge oder die vielen Kindern geraubte Kindheit. Die Welt muss sich gemeinsam des Krieges entledigen. Der Papst sagte: "Gott wird Rechenschaft fordern von dem, der den Krieg nicht gesucht oder Spannungen und Konflikte im Alltag, in den Monten und Jahren der Kriege der Vergangenheit verbreitet hat...". Und der Groß-Imam von Al-Azhar hat durch seinen Vertreter einen Aufruf ausgesprochen: «Schenken wir den Mensschen wieder das Lachen zurück, das ihnen durch Kriege und Konflikte geraubt wurde».

Das Gebet und der Friede sind integrale Bestandteile aller religiöser Traditionen, auch wenn sie so unterschiedlich sind. Die Religionen sprchen nicht nur zu Politikern und Diplomaten (auch wenn der Papst gesagt hat: "Der Friede ist die Priorität einer jeden Politik"), sie sammeln die kleinen und großen Taten aller, die Tränen der Opfer, die Bitten der Niedrigen und zeigen dabei eine "schwache Friedenskraft". Zurecht hat Paul Ricoeur geschrieben: «Die Religionen haben einen Sinn: die Grundlagen des Guten der Menschen zum Vorschein zu bringen und sie zu suchen, wo sie verborgen sind».

[ Andrea Riccardi ]