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Andrea Riccardi: "Die Religionen müssen die Grundlagen für den Frieden erneuern"

Der Gründer der italienischen Gemeinschaft Sant'Egidio organisiert zum ersten Mal zum ersten Mal in Paris das jährliche Treffen des interreligiösen Friedenstreffens an diesem Wochenende. Ein Ereignis von internationaler Bedeutung.


Andrea Riccardi ist einbekannter Historiker, der mehrmals als Minister initalienischen Regierungen, der oft als möglicher Nobelpreisträger genannt wird. Friedensnobelpreis für die humanitäre und friedensstiftende Arbeit von Sant'Egidio auf weltweiter Ebene. Er erläutert die Bedeutung und die Herausforderungen dieses internationalen Treffens, das hochrangige Vertreter aller Weltreligionen und zahlreichen Persönlichkeiten aus der Welt der Kultur, der Zivilgesellschaft und der Politik vereint. Das Treffen beginnt im Palais des Congrès in Paris ab Sonntag, dem 22.September, und endet am darauffolgenden Dienstag auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame.

Warum haben Sie Paris als Veranstaltungsort für Ihr interreligiöses Friedensgebetstreffen 2024 gewählt?

Ich denke, Paris ist ein unumgänglicher Ort. Es ist eine Weltstadt in Bezug in ethnischer, kultureller und religiöser Hinsicht. Ohne eine Apologie des Universalismus oder von Paris zu machen, muss man anerkennen, dass diese Stadt eine Vielzahl kultureller Besonderheiten aufweist. Dies wird einen Dialog mit diesem Universalismus, der in Frankreich präsent ist, stärken. Es gibt in diesem Jahr auch einen „Moment“. Wir begannen diese jährlichen Treffen nach dem ersten Interreligiösen Friedenstreffen, das von Johannes Paul II. in Assisi im Jahr 1986 einberufen worden war. Der Vorschlag empörte Erzbischof Lefebvre und Kardinal Ratzinger war verblüfft. In der langen Abfolge der Treffen ist es in diesem Jahr 2024 das schwierigste, denn das Wort „Frieden“ ist fast aus dem geopolitischen Vokabular und in der öffentlichen Meinung verschwunden ist. Als ob der Frieden keinen Wert mehr hat! Noch Ende des 20. Jahrhunderts war der Slogan „Nie wieder Krieg! vorherrschend, was zwar nicht die Kriege stoppte, aber es gab eine gewisse Wachsamkeit. Man achtete darauf, die Grenze des Risikos nicht zu überschreiten. Doch heute tanzen wir auf am Abgrund des Krieges. Wir müssen also alles neu überdenken. Daher die Auswahl des Themas unseres Treffens: „Imagine Peace“

Wenn man über diesen Frieden nachdenken muss, dann ist er definitiv nicht mehr möglich

Die Vorstellungskraft ist auch Kreativität. Wir müssen die Grundlagen für den Frieden neu darlegen. Diese Aufforderung richtet sich an Männer und Frauen unterschiedlicher Kulturen, aber vor allem an die Religion! Eine der großen Fragen ist, ob der Krieg gegen den Krieg nicht im Bereich der Religion zu Hause ist? Eine weitere Schwierigkeit besteht im konfliktreichen und gewalttätigen Klima in unseren Gesellschaften. Heute Morgen (2. September, Anm. d. Red.) lesen wir, in unseren italienischen Zeitungen, dass ein 17-jähriger Jugendlicher mit einem Messer in der Nacht seinen 12-jährigen Bruder und seine Eltern getötet hat... Das Klima des Krieges wird zum Klima der Gesellschaften. Schließlich werden die Religionen weiter voneinander getrennt, während in Assisi 1986 auch die Ökumene als wichtigeres Thema war. Man kann sich heute auch die Frage stellen, wo die christliche Ökumene steht. Man braucht sich nur die Orthodoxie anzusehen, die zwischen Moskau und Konstantinopel gespalten ist.

Wie können die Religionen, sobald sie involviert und eingesetzt werden, eine Rolle bei der Wiederherstellung des Friedens spielen?

Die Religionen sind hin- und hergerissen. Nationalismus und dem Aufkommen von Kriegen passt nicht zu der Kultur des „Zusammenleben“, das die DNA der Religionen ist und das den Weg zum Frieden ebnen sollte. Indem sie allen helfen, einander zu begegnen, sind die Religionen ihrer Berufung zum „Zusammensein“ gerecht. Indem sie die Notwendigkeit des „zusammen“ seins vertreten, nähren sie die tiefe Quelle des Friedens.

Aber Religionen spalten auch?

Ich will das Leben nicht rosig sehen! Wir befinden uns in einer schwierigen Zeit. Die Rückkehr des Krieges ist ein Versagen der Kultur, aber auch der Religion. Ich habe zum Beispiel gerade ein Buch über Pius XII. geschrieben, das im Verlag Editions du Cerf erschienen ist. Auf die Frage, ob Pius XII. durch sein Schweigen schuldig war, antworte ich, dass zu diesem Zeitpunkt der Krieg einen Bankrott des Christentums in Europa - wie auch der Kultur - markierte. Die katholische Kirche ist heute vollständig mit der Suche nach dem Frieden beschäftigt.

Aber was kann diese katholische Kirche für den Frieden tun?

Der Heilige Stuhl hat nicht wirklich enge diplomatische Möglichkeiten im Nahen Osten, da die Christen dort eine kleine Minderheit darstellen. Um ehrlich zu sein, in diesem Krieg kann das Christentum keine Rolle spielen. Was der Papst in Bezug auf die Ukraine und Russland sagte: „Ihr stammt aus demselben Taufe“, rief sehr kritische Reaktionen hervor. Er wollte jedoch versuchen, die russische Aggression anzuprangern und zu verurteilen. Dies geschah in einem typisch katholischen Geist, bei dem der Heilige Stuhl es ablehnt, sich als Partei gegen eine andere zu positionieren. Vielleicht war es genau das, was der angegriffenen Partei nicht gefiel. Diese Missverständnis ist in der Geschichte schon oft vorgekommen, zumal auf der ganzen Welt Katholiken leben.

Ist der interreligiöse Dialog, den Sie als einer der Akteure auf der ganzen Welt mit der von Ihnen gegründeten Gemeinschaft pflegen, nicht einfach nur abgenutzt?

1964 veröffentlichte Paul VI. die Enzyklika "Ecclesiam suam" über den Dialog. Ich konnte die autographischen Notizen dieses Papstes zu seinem Text sehen. Er schreibt auf der ersten Seite: „Dialog oder Bekehrung?“ Der “Dialog“ ist genau der Code, den der Katholizismus gewählt hat, um zu evangelisieren, um seine Diplomatie zu betreiben, um den Religionen zu begegnen, um die Einheit der Kirche wieder aufzubauen und die Beziehungen zu den Kulturen zu fördern. Ich muss hinzufügen, dass trotz all ihrer Schwächen und ihrem Schweitern die katholische Kirche eine Realität geblieben ist, die das Volk an seine Bestimmung erinnert. Das Volk besitzt nämlich ein universales Schicksal. Die einzige Stärke einer Religion ist nicht nicht wirtschaftlich! Es ist das Reden, das Zuhören, das Antworten, der Dialog. Es ist der Dialog, doch er wird kaum genutzt! Papst Franziskus sagte bei seinem Besuch in Sant'Egidio: „Die Welt leidet darunter, dass es keinen Dialog gibt!“ Ich halte das für sehr wahr.

Aber gab es nicht eine Illusion über die Ambitionen des Dialogs, eine Form von Irenismus, die sich nach der nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 einsetzte?

Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 sagte Johannes Paul II. zu mir: „Wir haben in Assisi nicht vergeblich gebetet“ (1986). Der Historiker und Politiker Bronislaw Geremek, der mit mir befreundet war, vertraute mir folgende Überlegung an: Der Fall der Berliner Mauer erfolgte 200 Jahre nach der Französischen Revolution, allerdings ganz im Gegensatz zu jenem Vorgehen bei der Revolte. die nur Gewalt als Mittel sah, um die Welt zu verändern. Die Revolutionen von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus wendeten das gleiche Rezept des Blutvergießens an. Die Revolution von 1989 war nicht gewalttätig, sondern wurde durch den Einnsatz der Bevölkerung durchgeführt. Vaclav Havel, der tschechische Präsident, fasste dies in den Slogan „Die Macht der Ohnmächtigen“. Die Macht der Ohnmächtigen hat alles verändert! Natürlich gab es auch Zufälle: Gorbatschow, die sowjetische Wirtschaftskrise... aber der Dialog verdrängte die Gewalt.

Der Geist des Krieges ist jedoch zurückgekehrt...

Wir haben die Globalisierung nicht gestaltet, wir haben der der planetaren Wirtschaft und Finanzwelt, der planetaren Kommunikation keine Gestalt gegeben, indem man meinte, dass die Globalisierung die wahre Vorsehung sei, dass dort, wo sie hinkommt, sich alles in Demokratie und Zivilisation verwandelt.... Das Thema Globalisierung wurde auch nicht durchdacht bzw. vom Standpunkt der Spiritualität aus betrachtet. Der Dialog unter den Religionen musste auf globale Ebene ausgeweitet werden, denn das Problem ist nicht der Kampf der Kulturen, sondern das Zusammenleben. Inzwischen blieb diese Globalisierung unvollständig und hat die Welt verändert, indem sie sie mit der Rückkehr der Imperien zerstückelte: Westlich, russisch, chinesisch, persisch-iranisch, türkisch, indisch und die Rückkehr der Nationen und ihrer Religion. Der Krieg, der undenkbar war, ist wieder aufgeflammt ist, wieder erwacht, grausam und mörderisch. 

Werden Sie in Paris eine Geste, ein besonderes Gebet oder eine Initiative ergreifen, um diese schwierige Situation zu verhindern?

Der Historiker und Theologe, der auch Generaldirektor des französischen Verlagshauses Editions de Cerf ist, sagte: „Ich bin sehr froh, dass Sie mich fragen. du Cerf, Jean-Francois Colosimo, schreibt in seinem jüngsten Buch, dass es in Frankreich ein in Frankreich noch ein „Weltgefühl“ existiert, während der Planet in Provinzialismus, Populismus, Ignoranz, Reaktion - nicht „reaktionär“ im Sinne der Rechten, sondern im Sinne einer "reaktionären“ Kultur, in der wir auf Informationen und das Internet ‚reagieren‘. Doch in Paris gibt es Kultur und Intelligenz. Jedes Gebet ist eine Erfahrung, die in der Lage ist, Verbindungen, Begegnungen und Konflikte zu schaffen. Aber jedes Jahr fragen wir uns, ob wir weitermachen sollen, und wir finden immer Gründe, die dafür sprechen. Angesichts des Risikos von Spannungen, haben uns einige in diesem Jahr davon abgeraten, uns zu versammeln, denn die Konflikte gibt es überall. Aber wir sind überzeugt, dass wir nicht nicht aufgeben.

[Jean-Marie Guénois ]