"Eine im Sturm aufgewühlte Welt verändern, damit die Erde durch eine Kultur des 'Wir' menschlicher und geschwisterlicher wird". Marco Impagliazzo am Fest des Hl. Ägidius

Fest des Heiligen Ägidius - Mt 8,23-27

Liebe Schwestern und Brüder,
wir versammeln uns zu diesem Gebet im Gedenken an den Mönch Ägidius, nach dem die Gemeinschaft benannt ist. Der Name ist ein Zeichen für die Erkennbarkeit und Identität einer Person. Der Name zeigt anderen, wer man ist: Dieser Name hat uns als Gemeinschaft des Gebets, der Armen und des Friedens bekannt gemacht.  Der Name ist für die Juden eine Berufung. Der Name Ägidius ist mit einem Wir und nicht mit einem Ich verbunden: Er ist der Name einer Gemeinschaft aus dem Volk und aus der Welt. Und das ist heute ein wichtiges Zeichen inmitten so vieler Spaltungen und Betonungen der eigenen Region. Wir treten nicht als viele Ichs auf, sondern als eine Gemeinschaft mit einem Namen, der uns überall auf der Welt verbindet. Dieser Name führt Generationen, Kulturen und Nationen zusammen. Ägidius war mehr ein geistlicher Vater von Mönchen, als ein Einsiedler. Er baute Gemeinschaften in der Wüste des mittelalterlichen Europas auf. Sein Name verbreitete sich an vielen Orten im mittelalterlichen Europa und erreichte sogar Rom mit dieser unserer Kirche. Auch wir können eine durch Kriege verödete und durch den Klimawandel überschwemmte Welt durch Zeichen und sichtbare Orte der Geschwisterlichkeit aufforsten, in denen man Schutz finden kann und durch die der zerbröckelte Boden unserer Welt gefestigt wird.

Diese Erinnerung, die all unsere Gemeinschaften vereint, ruft uns zu Beginn eines neuen Jahres in der Freude des Festes, das auch ein Fest der Zusammenkunft unter Brüdern und Schwestern ist, dazu auf, auf dem aufgewühlten Meer neue Netzwerke aufzubauen und daran zu arbeiten, neue Bindungen zu schaffen. Überall muss der Übergang vom „Ich" zum „Wir" eingeleitet werden, der das Leben so vieler von Resignation, Versagen und Individualismus befreien kann. So kann das menschliche und kulturelle Klima in unseren Gesellschaften verändert werden. Die Kultur des „Wir" wird von einer Gemeinschaft aufgebaut, die das Evangelium lebt.

Eine Geschichte aus dem „Buch der Wunder des heiligen Ägidius" erzählt von Pilgern, die aus der Abtei Saint-Gilles zurückkehrten und sich auf den Weg nach Hause machten. „Als sie in die Nähe eines Flusses kamen, gab es auf der Seite, von der sie kamen, keine Häuser oder Hütten. Am anderen Ufer gab es jedoch eine Hütte. Dort wohnen diejenigen, die normalerweise die Reisenden übersetzten, dort war ein Boot fest angekettet, wie man sehen konnte. Damals war der Fluss jedoch aufgrund starker Regenfälle so stark angeschwollen, dass es unmöglich war, ihn zu überqueren. Unsere Pilger, die sich in einer schwierigen Situation befanden und ohne jede menschliche Hilfe waren, wandten sich an den heiligen Ägidius und riefen ihn an: ‚Komm den Unglücklichen zu Hilfe, die keine andere Hoffnung haben als dich.‘ Der Heilige sagte: ‚Warum noch länger zögern?‘ Sofort zog das Boot vor ihren Augen los, überquerte den Fluss und hielt vor ihnen an, bereit, sie aufzunehmen. Und obwohl sie weder Ruder, noch Baumstämme, noch irgendeines der für die Überquerung notwendigen Instrumente besaßen, gewährte Gott ihnen dennoch seine Gnade, und unter dem Schutz des seligen Ägidius, der das Boot selbst steuerte, überquerten sie den Fluss.“

Schwestern und Brüder, jeder von uns hat einen angeschwollenen Fluss zu überqueren oder muss über eine stürmische See fahren, um in ein menschlicheres und geschwisterlicheres Land zu gelangen, wo eine Kultur des Wir gelebt wird. Das Überqueren des Flusses, wie in der Geschichte des Heiligen Ägidius, oder die Fahrt über die raue See des Evangeliums bedeuten Aufbruch, um eine Welt aufzubauen, in der die Armen getröstet werden und keine Menschen mehr im Krieg sterben. Um den Fluss zu überqueren, braucht man ein Boot: Dieses Boot ist die Gemeinschaft, in der der Herr ist. Aber oft haben wir den Eindruck, dass das Boot nicht ausreicht, dass es zu zerbrechlich ist, dass der Herr nicht eingreift, dass andere Mittel notwendig sind... Nein! Dieses Boot ist das, was wir brauchen, denn es gibt den Herrn, an den wir unser Gebet immer richten können. Und er erhört uns. Es ist also notwendig, dass dieses Boot geliebt, bewacht und geschützt wird. Das ist die Aufgabe eines jeden von uns. Ohne ein Boot werden wir am Ufer des Pessimismus und der Resignation stecken bleiben.

Ägidius sagt in dieser Geschichte: ‚Warum noch länger zögern?‘ Das ist eine grundsätzliche Frage, die eine positive Reaktion erfordert, die ein Zeichen der Sorge um die Bedürftigen notwendig macht. Wir stellen uns diese Frage auch heute Abend. Warum noch länger in der Selbstliebe verweilen, in der Konzentration auf die eigenen Probleme, in der Zerstreuung durch die anderen? Warum sollten wir uns vom Wort Gottes fernhalten? Warum sollten wir uns von dem Gedanken anstecken lassen, dass es zu spät ist, um für den Frieden zu arbeiten, um neue Beziehungen zu knüpfen, um das Leben derer zu retten, die in Gefahr sind, um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen? Brüder und Schwestern, lasst uns nicht faul bleiben, ohne Träume zu verwirklichen! Wir dürfen der Macht des Wortes Gottes, das Wunder wirkt, keine Grenzen setzen.

Schwestern und Brüder, während der Krieg in der Ukraine weiterhin Tod und Zerstörung bringt, so viele Migranten auf ihrer immer schwieriger werdenden Reise durch die Verschlossenheit der Türen der reichen Länder sterben, während die Bevölkerung Pakistans unter den tragischen Folgen sintflutartiger Regenfälle leidet, die durch Monsune verursacht werden, die viel intensiver sind als normal, ruft uns diese Zusammenkunft an diesem Gedenktag durch das Hören auf das Wort Gottes und vor dem Antlitz Jesu dazu auf, den Blick auf diese Situationen zu richten und aus unserem Gefühl der Belanglosigkeit herauszukommen. Lasst uns heute gemeinsam sein Antlitz betrachten und dadurch erleuchtet werden. Lasst uns an Jesus glauben, lasst uns die Gemeinschaft leben, um unermüdliche Diener des Friedens zu sein, um die Ausgestoßenen aufzunehmen und diejenigen zu unterstützen, die um Hilfe bitten. Wir dürfen uns nicht mit einer Welt abfinden, in der so viel Leid herrscht. Nehmen wir diese Welt nicht so hin, wie sie ist, und gehen wir weiter voran! Auf zum anderen Ufer! 

Steigen wir in das Boot der Gemeinschaft ein, seien wir bei Jesus, schließen wir uns unseren Brüdern und Schwestern an, um die Überfahrt vom „Ich" zum „Wir“ anzutreten, die so viel in unserem Leben verändern und neue Wege zum Heil eröffnen kann.