Reflexion von Andrea Riccardi über den Geist von Assisi im Avvenire des 17. September 2016:
Der "Geist von Assisi" kehrt heute nach Assisi zurück, wo er zu Hause ist. Von hier ging er 1986 aus, vor 30 Jahren, zur Zeit des kalten Krieges. Es war dies eine persönliche kühne Initiative von Johannes Paul II. In einer Zeit des weltweiten Wandels, damals in einer Art Morgendämmerung, erkannte Papst Wojtyła genau, wie die Religionen eine Rolle des Friedens ausüben können, aber auch wie sie versucht sind, Konflikte und Identitäten zu verheiligen. Er lud somit die Religionsführer der Welt ein, aber nicht um untereinander zu diskutieren, sondern vor allem um für den Frieden zu beten. Dies war eine tiefe Intuition: geopolitisch und zugleich mystisch. Johannes Paul II. erläutert in einem Interview mit Messori in Bezug auf die Religionen: "Ich werde versuchen aufzuzeigen, was für diese Religionen das gemeinsame grundlegende Element und die gemeinsame Wurzel darstellt". In Assisi zeigte der Papst auf, wie das Streben nach Frieden ein einigendes Element unter den Religionen darstellt, und er hob hervor, wie das Gebet die Wurzel für den Frieden ist. Dies war ein Wendepunkt. Ausgehend von diesem Gebet entwickelte sich über die Jahre hinweg ein Weg des ökumenischen und interreligiösen Dialogs.
Dieser 27. Oktober 1986 wurde - nicht nur von den Teilnehmenden - als historischer Tag wahrgenommen: Er beinhaltete den Vorschlag von etwas Neuem, auf das viele gewartet haben. Dieser Tag hatte eine große Wirkung auf die Religionen. Man denke nur an die japanische religiöse Welt, die in den folgenden Jahren intensiv diesen Weg verfolgte. Eine ebenso große Auswirkung hatte er auf die öffentliche Meinung. Er war ein Signal für das Ende des kalten Krieges. Er zog den Schlussstrich unter jahrhundertelange Geschichten von Auseinandersetzung, Isolierung und Ignoranz zwischen Welten, Geschichten, die auf ewig anzudauern und wie ein Schicksal zu sein scheinen. Menschen unterschiedlicher Religionen sollten sich innerhalb weniger Jahre unter dem Einfluss der Globalisierung in vielen Teilen unseres Planeten noch weiter vermischen. Niemand konnte mehr nur für sich leben wie auf einer Insel. Der "Geist von Assisi" war der Vorschlag einer Kunst des Zusammenlebens, die eine religiöse Grundlage hat.
Dies brauchte und braucht die globale Welt mehr denn je: angesichts bislang unbekannter Kohabitation, angesichts einer weit verbreiteten Betonung von Identitäten in Kontraposition, angesichts des Terrorismus, angesichts einer Aufwertung des Krieges. In den 90er Jahren war es nötig, abseits von einem Aufeinanderprallen von Zivilisation und Religion (was als Schicksal der globalen Welt glaubhaft gemacht wurde) eine "Zivilisation" des Zusammenlebens zu schaffen. Deshalb waren das Treffen in Assisi und die nachfolgende Geschichte von solcher Wichtigkeit.
In der Stadt des heiligen Franziskus präsentierten sich in jenem Jahr 1986 die Religionen Seite an Seite in Frieden und im Gebet. Viele - jene, die "päpstlicher" als der Papst waren - wollten den Bischof von Rom auf die Risiken dieser Initiative aufmerksam machen. Andere - die Ängstlichen - rieten dazu, dass dieses Treffens der Religionen im Zeichen des Friedens ein isoliertes, nichtzuwiederholendes Ereignis bleiben solle. Andernfalls könnten Fehltritte oder Verwischungen entstehen. Papst Wojtyła hingegen war beharrlich dafür, dass diese Geschichte fortgeführt werde. Die darauffolgenden Jahre gaben ihm recht. Der "Geist von Assisi" verbreitete sich. Im Zusammenkommen von Frauen und Männern der Religionen entwickelte sich Jahr für Jahr ein reichhaltiger und ausgesprochener Dialog. Die franziskanischen Familien sprachen weltweit von einem Geist von Assisi. Der Erzbischof von Buenos Aires, Bergoglio, erklärte, dass die "Prophetie von Assisi" eine "Vermächtnis Johannes Pauls II. für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen" sei. Ich erinnere an einen syrischen Bischof aus Aleppo, Mar Gregorios Ibrahim, der sich mit Enthusiasmus in den Dialog unter den Religionen begab, nachdem er 1986 in Assisi teilgenommen hatte: Er wurde 2013 entführt, und seit Jahren gibt es keine Nachrichten von ihm.
Am Sonntag beginnt in Assisi ein Treffen, an dem auch der ökumenische Patriarch Bartholomäus in Gegenwart des Präsidenten Sergio Mattarella teilnehmen wird, bei dem sich Religionsführer, und humanistische Persönlichkeiten begegnen werden, um Dialog zu führen über spirituelle Fragen aber auch über die Konfliktsituationen. Am Dienstag wird sich Papst Franziskus nach den Gebeten in den jeweils verschiedenen religiösen Traditionen innerhalb des Sacro Convento, nicht weit vom Grab des Heiligen Franziskus, der Herabrufung um Frieden vieler Gläubiger aller Religionen auf dem Hügel von Assisi anschließen. In Assisi werden wir für den Frieden beten. Das Gebet kann die Pläne der Gewaltbereiten zum Einsturz bringen, während man den Schrei derer, die aufgrund von Kriegen leiden, vor Gott bringt. Man wird für Aleppo und ganz Syrien beten. Und für alle Menschen und alle Länder, in denen Krieg und Gewalt herrscht.
Es wird kein isoliertes Ereignis bleiben. Die italienische Kirche vereint sich mit diesem Gebet um Frieden (sie bringt am selben Tag aufs Neue die gemeinsame und konkrete Solidarität mit den Opfern des Erdbebens in Mittelitalien zum Ausdruck). Dies werden auch andere Kirchen in der Welt tun. In fünfundfünzig Städten in allen Kontinenten werden Vertreter der verschiedenen Religionen zeitgleich ebenso für den Frieden beten. Unsere Welt ist zu belastet von Hass und Krieg. Das Gebet ist eine Kraft des Friedens - eine gewaltlose, aber demütig mächtige. Der Heilige Johannes Paul II schrieb im Jahr 2000 an die Gemeinschaft Sant´Egidio anlässlich des Friedenstreffens in Lissabon: "Ich bin davon überzeugt, dass der Geist von Assisi ein Geschenk der Vorsehung für unsere Zeit darstellt. In der Unterschiedlichkeit der religiösen Ausdrucksweisen, die rechtlich als solche anerkannt sind, bezeugt das Zusammensein, einer neben dem anderen, auch sichtbar die Einheit der Menschheitsfamilie".