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Ukraine, Riccardi: Der Papst hat es angedeutet, der einzige Weg ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen

 

Der Historiker und Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio meldet sich anlässlich des dramatischen Ereignisses von tausend Kriegstagen an der osteuropäischen Front zu Wort, um zu bekräftigen, wie wichtig es ist, die Kontakte nicht abreißen zu lassen, um den Frieden zu erreichen: "Die Worte von Franziskus entspringen der dramatischen Erkenntnis, dass die Ukraine und die Ukrainer in diesen Jahren einen schrecklichen Preis zahlen mussten".

Francesca Sabatinelli - Vatikanstadt

Tausend Tage: eine Länge, die zum Nachdenken anregt, die von einem Krieg erzählt, der die Ukraine einen enormen Preis gekostet hat. Es ist notwendig, die Kühnheit der Verhandlungen wieder aufzunehmen und Diplomatie zu üben, indem man der politischen Kohärenz von Papst Franziskus folgt, der angedeutet hat, was zu tun ist: im Gespräch bleiben und die Kontakte nicht abbrechen. Andrea Riccardi, Historiker und Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio, analysiert den traurigen Jahrestag eines Konflikts, der auch zwei Jahre und neun Monate später noch nicht zum Frieden geführt hat.

Herr Professor, um an die Worte des Papstes in Luxemburg zu erinnern, scheint es bis jetzt in keiner Weise so, als ob sich irgendjemand verpflichtet hätte, ehrenhafte Kompromisse zu finden, um Sicherheit und Frieden zu schaffen

Wir haben uns inzwischen an die täglichen Nachrichten gewöhnt und akzeptiert, dass dieser Krieg weitergeht. Tausend Tage sind eine Länge, die zum Nachdenken anregt. Ich möchte daran erinnern, dass der Erste Weltkrieg für Italien 1261 Tage dauerte und als Großer Krieg bezeichnet wurde; für die Welt dauerte er 1568 Tage. Tausend Tage sind nicht die Geschichte eines kleinen Konflikts, sondern eines Konflikts, der einerseits ein ganzes Land, die Ukraine, verwüstet und andererseits die Welt verändert hat. Und das, weil wir uns, wie der Papst zu Recht sagt, in einem Zustand befinden, der fast einem Weltkrieg gleichkommt, mit der atomaren Gefahr im Hintergrund. Wir haben die Kultur des Krieges rehabilitiert und Frieden und Dialog aus dem Lexikon der internationalen Beziehungen verbannt. So sprechen wir heute von Waffen, von Geostrategien, von Kriegsereignissen, aber wir schauen nicht ein bisschen weiter, wir lehnen den Dialog als Methode ab und wir streben nicht mehr nach Frieden. Sogar das Wort "Frieden" ist verbannt. Stattdessen entspringen die Worte des Papstes der dramatischen Erkenntnis, dass diese tausend Tage keinen anderen Zweck hatten, als die Ukraine einen schrecklichen Preis zahlen zu lassen. Denn dieser Krieg, die gewaltsame russische Aggression gegen ein freies Land wie die Ukraine, hat die Ukrainer selbst einen enormen Preis zahlen lassen. Seit den ersten Tagen des Krieges spreche ich von Frieden und Verhandlungen. Und jedes Mal, wenn ich die Worte des Papstes höre, werde ich getröstet. Ich spreche von Frieden nicht aus einer pro-russischen Haltung heraus, sondern gerade aus Liebe zum ukrainischen Volk, das durch den Krieg verwüstet wurde. Es gibt 14 Millionen hilfsbedürftige Menschen, 6-7 Millionen Flüchtlinge im Ausland, fast 4 Millionen Binnenflüchtlinge. Ich war in der Ukraine und habe etwas gesehen, was ich seit meiner Kindheit, nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht mehr gesehen habe: so viele Kriegsamputierte auf den Straßen. Man denke auch an die psychische Belastung der Zivilbevölkerung, des Militärs und der älteren Menschen. Es ist eine Gesellschaft, die überfordert und verarmt ist, so sehr, dass sie um 10 Millionen Menschen geschrumpft ist. Aber warum muss sie diesen Preis zahlen? Sie wurde angegriffen, sie hat reagiert und auf die Aggression geantwortet. Aber kann man nicht einen anderen Weg finden? Viele sagen, dass das unmöglich ist und dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist. Sie fügen hinzu, dass man die Ukraine verraten würde, wenn man darüber spricht. Das will niemand: Man will, dass die Ukraine lebt, deshalb denkt man an Verhandlungen und Frieden. Das ist gar nicht so unmöglich, im Gegenteil, es ist notwendig, die Kühnheit der Verhandlungen wieder aufzunehmen. Man muss Diplomatie üben, Kontakte suchen, verhandeln, um die Kette des Krieges zu durchbrechen. Mir scheint, dass die weitsichtigste Politik unter den Staatsoberhäuptern der Welt die des Papstes ist, der den Krieg als Übel anprangert, der erneut Verhandlungen vorschlägt und der durch die Mission von Kardinal Zuppi die Kontakte zu allen Parteien und darüber hinaus offen hält. Mit den humanitären und diplomatischen Kontakten wurde ein Weg aufgezeigt, was zu tun ist: die Gespräche fortsetzen, während die diplomatischen Kanäle alle unterbrochen sind, was eine Tragödie ist, denn wenn die Brücken unterbrochen sind, ist es schwierig, sie wieder aufzubauen.

In diesen tausend Tagen hatte man den Eindruck, dass die internationale Gemeinschaft, anstatt etwas gegen den Krieg zu unternehmen, für ihn gehandelt oder gesprochen hat, so schrecklich das auch klingt...

Sprechen wir nicht von internationaler Gemeinschaft, denn die internationale Gemeinschaft, von der wir sprachen, gibt es nicht mehr. Wir sagen: der Westen, die NATO, Europa, die dann am Ende Gefahr laufen, dasselbe zu sein. Alle sind in der Euphorie des Krieges und des Sieges nach dem mutigen ukrainischen Widerstand gefangen, mit dem Risiko eines indirekten Krieges, der von den Ukrainern geführt und vom Westen unterstützt wird. Ich sage, die internationale Gemeinschaft von gestern gibt es nicht mehr. Man denkt heute an das Entstehen einer breiten, konfliktkritischen Meinung, wie im Globalen Süden. Dann ist da noch die Annäherung Russlands an China, und das ist ein weiteres sehr ernstes Problem. Die historischen russisch-europäischen Beziehungen sind jetzt zusammengebrochen. Ja, nach der russischen Invasion hat es eine kriegerische Euphorie gegeben. Ich bin kein Experte für militärische Fragen, aber ich habe nie geglaubt, dass Russland durch Sanktionen oder militärisch bezwungen werden kann. Nicht, dass Russland nicht unter diesem Krieg leiden würde, aber der große russische Körper, menschlich und wirtschaftlich, hat die Fähigkeit, Widerstand zu leisten. Im Gegensatz dazu hat die Ukraine viel weniger von dieser Fähigkeit, weil sie viel schwächer ist. Und sie ist jetzt durch den unerbittlichen russischen Kriegshammer schmerzlich geschwächt.

Wenn die Führungen bisher immer nur über Waffen und Krieg gesprochen haben, ist es, wie Sie erklärt haben, an der Zeit, kreative diplomatische und Verhandlungsvorschläge zu machen. Auf welcher Grundlage, in der heutigen Situation?

Der Frieden ist heute notwendiger denn je, denken wir an den nahenden Winter. 65 % der ukrainischen Stromerzeugungskapazität sind durch Raketenangriffe beeinträchtigt worden. Dieser Winter könnte für viele Ukrainer der Tod sein. Frieden ist nötig, und zwar bald. Es gibt kein Patentrezept: Ich denke, wir müssen anfangen, miteinander zu reden, uns an einen Tisch setzen. Aber das ist nicht so einfach, denn dazu muss man erst einmal diplomatische Kanäle geschaffen haben. Ich glaube, dass der Weg der Verhandlungen möglich ist: Immerhin waren wir zwei Monate nach Beginn des Krieges einer Einigung nahe, die den Ukrainern von einigen westlichen Ländern verwehrt wurde. Wir müssen heute damit beginnen, die humanitären Fragen zu lösen: die Familienzusammenführung von Minderjährigen, den Austausch von Gefangenen und der Leichen von toten Soldaten. Und dann müssen Kontakte auf allen Ebenen gesucht werden, denn die Mauer des Hasses und der Kriegspropaganda ist zu hoch. Die Ukraine darf nicht am Friedenstisch verraten werden: Ich glaube, das muss ausgehandelt werden. Dann ist da noch das Abenteuer des Wiederaufbaus der Ukraine, das eine große Herausforderung sein wird. Es ist eine große Baustelle, aber es braucht Schritte und Treffen, um sie anzugehen. Alle möglichen Brücken müssen aufgebaut werden und zwar schnell. Für uns Gläubige bleibt die 'schwache Kraft' des Gebets, die um Frieden bittet von dem, der ihn trotz der 'Kriegsherren' geben kann. Ich bin erstaunt, wenn ich sehe, dass wir in den Sonntagsmessen für so viele Anliegen beten, aber fast nicht für den Frieden. Das Gebet ist unser Protest gegen den Krieg und drängt zur Hoffnung, die dann die Seele des Dialogs ist.

Eigene Übersetzung