Die humanitären Korridore sind ein sinnvolles Modell der Aufnahme. Leitartikel von Andrea Riccardi

Sie sind ein sicherer Weg, um Flüchtlinge zu integrieren und benötigte Arbeitskräfte zu finden


Die Überraschung kam aus der italienischen Gesellschaft: Auf die 151.000 Plätze, die durch das Dekret über den Flüchtlingsstrom (nicht saisonal) zur Verfügung gestellt wurden, kamen über 690.000 Anträge von Italienern. Eine Masse von Bewerbungen, die den großen Bedarf an Arbeitskräften in fast allen Sektoren zeigt. Der demografische Wandel macht die Suche nach Arbeitskräften im Ausland dringend erforderlich. Angst und Alarmismus haben die Politik gelähmt, die keine vernünftige Lösung gefunden hat. Die Regierungen der EU sind durch den Zeitgeist gelähmt: Angst vor Migranten und die Idee, dass jeder seinen eigenen Weg gehen sollte.

Doch die Daten sprechen für sich: Die europäische Wirtschaft braucht Arbeitskräfte, aber vor allem der demografische Winter macht eine Lösung immer dringlicher. In Italien herrscht große Beunruhigung: Nach Angaben des Cattaneo-Instituts müssen wir uns auf die Suche nach Einwanderern machen, sonst bricht die Wirtschaft zusammen, weil ab 2036 auf fünf Rentner nur noch ein Arbeitnehmer kommen wird.

Die humanitären Korridore, die von der Gemeinschaft Sant'Egidio konzipiert und gemeinsam mit der Waldenser-Tafel und den protestantischen Kirchen organisiert werden und denen sich auch die Caritas und andere Verbände angeschlossen haben, sind ein Beispiel dafür, wie man dieses Problem angehen kann. Letzte Woche hat das erste syrische Mädchen, das am 4. Februar 2016 mit dem ersten "Korridor" in Italien angekommen ist, seinen Studien-Abschluss gemacht. Das bedeutet, dass die Integration auch schnell funktioniert.

Letzten Monat wurde eine weitere Gruppe von Syrern aus dem Libanon willkommen geheißen, die bereits integriert und bereit sind, andere zu integrieren. Im Moment beläuft sich die Gesamtzahl derjenigen, die mit den "Korridoren" angekommen sind, auf etwa 7.200 Flüchtlinge, die sowohl für sie als auch für die Gastgeber sicher und legal eingereist  sind.
In diesen Tagen trifft eine neue Gruppe von Syrern aus dem Libanon ein und im Juni über 200 Afghanen aus Pakistan. Auch der "Korridor" aus Libyen wurde mit der Zusage von bis zu 1.500 Flüchtlingen wieder geöffnet.

Diese Aufnahmearbeiten werden der Gesellschaft anvertraut. Kirchen, Gemeinden, Verbände, lokale Behörden, Familien: Es sind die Italiener (und die Neueuropäer), die die eigentliche Integrationsarbeit leisten und entdecken, wie viel verborgene Kraft in der Solidarität steckt.
Dies widerspricht dem vorherrschenden Pessimismus und Opferdenken: Es gibt ein Italien, das gastfreundlich sein will. Das ist positiv für diejenigen, die ankommen, aber auch eine Erneuerung für diejenigen, die sie aufnehmen. Ganze Dörfer sind um ausländische Familien und ihre Kinder herum neu belebt worden.

Eine Vereinbarung zwischen Sant'Egidio und den Ministerien für auswärtige Angelegenheiten, Inneres und Arbeit sieht nun Arbeitskorridore vor. Der Dialog mit dem privaten Sektor einiger interessierter Regionen wie Venetien, Latium und Kalabrien ist im Gange.
Es ist nicht notwendig, dass gesamte Verfahren - von der Aufnahme bis zur Integration - auf den Schultern der Institutionen lasten. Es ist möglich, sich auf die Unternehmen selbst zu stützen und die Einreisen an das Angebot anzupassen. Wo das Angebot vorliegt, "passen" die Projektträger das Angebot an die Nachfrage an. Es ist das Prinzip der Adoption: Das Modell des humanitären Korridors ist adoptiv, freiwillig und von der Gesellschaft selbst gewählt, wobei die Institutionen für die allgemeine Unterstützung und die Sicherheitskontrollen sorgen.

Die wahre Subsidiarität zeigt sich in dieser Rolle, die die Menschen und die Gemeinschaften übernehmen und die zeigt, dass, wenn die Dinge richtig gemacht werden, niemand mehr Angst hat. Es ist zu hoffen, dass das künftige Parlament und die künftige Europäische Kommission dieses Modell berücksichtigen und es sich zu eigen machen werden.

Leitartikel von Andrea Riccardi in Famiglia Cristiana vom 2/6/2024