Helfen gibt Würde. Artikel in der Süddeutschen Zeitung über Sant'Egidio


SÜDDEUTSCHE ZEITUNG - 28.5.2020

"Helfen gibt Würde"
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Von Bernd Kastner

Ursula Kalb trägt keinen Titel, außer diesen vielleicht: "Ansprechpartnerin". Das steht vor ihrem Namen auf einer Internetseite, die ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt. Links oben fliegt, vor einem Regenbogen, eine Friedenstaube gen Himmel, rechts gibt es zum Anklicken das tägliche Gebet. Die Ansprechpartnerin soll kontaktieren, wer in München bei Sant'Egidio mitmachen möchte. Oder vielleicht erst mal wissen will, was das überhaupt ist, Sant'Egidio, diese in der breiten Öffentlichkeit eher unbekannte katholische Laiengemeinschaft. Ursula Kalb erklärt das gerne, und bald weiß man, dass sie in einem Dreieck agiert. Irgendwo zwischen Caritas, Amnesty International und Papst-Fanclub.

"Wir wollen niemanden alleinlassen", sagt Ursula Kalb, 60. Wie Sant'Egidio als Ganzes drängt es sie nicht auf die große Bühne. Dabei gehört diese Frau in Deutschland zu den wichtigsten Repräsentanten der Organisation, die in Rom ihren Sitz hat und weltweit aktiv ist. Vielleicht ist sie die prägendste Person überhaupt für den hiesigen Teil der Gemeinschaft, die so besonders ist in der katholischen Welt. Die Leute von Sant'Egidio residieren nicht in Palästen. Sie kümmern sich um die Vergessenen, um die Armen und Obdachlosen, die Flüchtlinge und die Kranken. Sie helfen und beten und machen kein Aufhebens um ihre Arbeit. "Das Evangelium führt uns zu den Armen", sagt Ursula Kalb. "Eigentlich sind die Armen die Stellvertreter Christi auf Erden."

St. Sylvester, Alt-Schwabing, gleich beim Englischen Garten, wo München so schön und wohlhabend ist. Mittags stehen auf dem Fußweg Menschen, deren Kleidung manchmal schon ihre Geschichte ahnen lässt. Sie kommen zur Mensa von Sant'Egidio, die in Corona-Zeiten nicht mehr ausschließlich am Samstag öffnet, sondern auch sonntags. Das Essen wird nicht wie früher an schön gedeckten Tischen serviert, man kann es mitnehmen. Wer reingeht in den Pfarrsaal, zieht eine Maske über, drinnen füllen die einen Ehrenamtlichen Papiertaschen mit dem Nötigsten; die anderen sitzen an Tischen, um zu reden oder mit den Leuten die neuesten Behördenbriefe zu besprechen. Die Ehrenamtlichen wollen hören, wie ihre oft einsamen Freunde durch diese Zeit kommen. Sie sagen nicht Klienten oder Schützlinge zu den Bedürftigen, sie sagen: Freunde.

Es ist das zentrale Wort im Kosmos von Sant'Egidio. Ursula Kalb ist vor vier Jahrzehnten auch deshalb hängen geblieben - wegen der "Freunde". 1979 hatte sie bei einer Romreise mit Freunden Sant'Egidio kennengelernt. Später, als sie in Würzburg Theologie studierte, fing sie mit diesen Freunden an, im Sinne der Gemeinschaft Dienst an den Armen zu leisten. Es hat ihr gefallen, auf diese Weise die an der Uni gelehrte Theorie des Glaubens mit der Praxis zu verbinden. Dass sie bei Sant'Egidio "Freunde" zu den Bedürftigen sagen, das habe sie vorher noch nirgends gehört. "Freundschaft ist eine andere Dimension." Keine, die ein oben und unten spiegelt, aber eine, die ein dauerhaftes Miteinander ausdrückt.

Ursula Kalb hat in der Würzburger Gruppe ihren späteren Mann kennengelernt, hat bei der Diözesan-Caritas gearbeitet und nebenbei Sant'Egidio in Deutschland aufgebaut. Vor sechs Jahren sind sie und ihr Mann dann nach München gezogen, auch der Hauptsitz für Deutschland ist inzwischen hier, im Büro in St. Sylvester. Kalb arbeitet jetzt hauptamtlich für die Gemeinschaft.

Zur Mensa kommen die älteren Mitglieder der Gemeinschaft gerade nicht, zu ihrem eigenen Schutz vor einer Ansteckung, sie beraten die Freunde sicherheitshalber am Telefon. Dafür sind Dutzende neue, jüngere Helfer hinzugestoßen, erzählt Ursula Kalb. "Die Solidarität ist da. Es gibt den Wunsch, den Ärmeren zu helfen." Dass sie ihren Freunden schon mal einen Zettel mit einem Gebet mitgeben, mag irritieren. Wollen sie missionieren? Ursula Kalb verneint. Sie helfen allen Menschen, egal, an wen jemand glaubt und ob überhaupt. Auch bei jenen, die auf der Straße leben, spürten sie das Bedürfnis nach einer spirituellen Ebene. Gemerkt hätten sie das vor einigen Jahren, als zwei rumänische Obdachlose plötzlich verschwunden waren. Sie waren gestorben. Die Leute von Sant'Egidio wollten sich verabschieden, und siehe, es kamen viele Menschen in die Kirche. Seither gibt es regelmäßig Gottesdienste, speziell für die Freunde. Es kämen auch jene, erzählt Ursula Kalb, die sich in traditionellen Pfarreien nicht willkommen fühlten.

Bei Sant'Egidio verstehen sie das Beten als Teil der Hilfe. "Ich glaube, dass das Gebet eine tiefere Dimension des Lebens ist. Dass es Kraft hat", sagt Ursula Kalb und zitiert eine Jugendliche, die von den Nationalsozialisten ins KZ gesperrt worden war: "Wenn ich für jemanden bete, dann geht ein Teil meiner Kraft auf den anderen über." Da erinnert sie sich an eine Begebenheit während eines Gottesdienstes, sie hat sich damals zunächst gewundert. Es waren irakische Christen gekommen, sie machten Fotos und legten ihre Handys auch danach nicht weg. Später erzählten sie Ursula Kalb, dass sie die Fotos gleich nach Hause, nach Bagdad geschickt hatten, um ihren Familien zu zeigen, dass man in Deutschland an sie denke und für sie bete. Da habe sie wieder gemerkt, dass Beten Kraft übertragen könne, und dass ihr Konzept funktioniere: Sie wollen das Soziale, den Einsatz für Menschenrechte und Frieden mit dem Religiösen verbinden. Sie leiten ihr Tun aus dem Evangelium ab. "Lesen aus der Schrift ist für uns Gebet", sagt Ursula Kalb.

Seit elf Jahren gehört sie dem internationalen Rat von Sant'Egidio an. Gewählte Vertreterinnen und Vertreter aus der ganzen Welt beraten den Präsidenten Marco Impagliazzo. Über allem aber steht Andrea Riccardi. Er hat 1968 mit einigen Mitstudenten in Rom die Gemeinschaft gegründet und sie später nach dem alten Kloster in Trastevere benannt, wo sie sich regelmäßig trafen. Riccardi ist Geschichtsprofessor von Beruf, er war von 2011 bis 2013 in der Regierung Monti Minister für internationale Zusammenarbeit und Integration. Vor allem aber ist Riccardi derjenige, der Sant'Egidio groß gemacht hat; heute zählt die Gemeinschaft rund 70 000 Mitglieder in 70 Ländern. Eine formale Mitgliedschaft gibt es nicht, dabei ist, wer mithilft. Während in Deutschland die christlichen Kirchen massiv Mitglieder verlieren, wächst Sant'Egidio. Das Konzept kommt an: kein Prunk, keine Hierarchien, dafür direkte Hilfe für Bedürftige.

Ursula Kalb wirkt so konservativ wie modern. Sie ist eine selbstbewusste Frau - und arbeitet unter dem Dach der katholischen Kirche, die die Frau noch immer dem Mann unterordnet. Das störe sie nicht, sagt sie. Bei Sant'Egidio spiele das Geschlecht keine Rolle. Und da sie nie den Wunsch hatte, in einen Orden einzutreten oder Priesterin zu werden, da sie nie nach irgendeiner Macht gestrebt habe, fehle ihr auch nichts. Im Gegenteil, sie schätze die Freiheiten einer Laienorganisation. Wohl fühlt sie sich am Rande der Kirche auch deshalb, weil ganz oben ein Freund und Förderer von Sant'Egidio steht. Franziskus. Fällt sein Name, beginnt Kalb zu strahlen. Der Papst strebe eine Kirche an, die für die Armen und Ausgegrenzten da ist, wäscht Straftätern die Füße. "Das sind starke Gesten, die uns zeigen, was Kirche ist." Kalb sieht ihn als Verbündeten in ihrem Bestreben, die Kirche von innen und von unten zu verändern. Die Kirche müsse von ihrem Reichtum abgeben und sich noch mehr um die Marginalisierten kümmern, um Flüchtlinge zum Beispiel.

Auf internationaler Ebene hilft Sant'Egidio Geflüchteten, indem sich die Gemeinschaft für humanitäre Korridore einsetzt. So sind schon Tausende auf sicherem Weg nach Europa gekommen. Und Ehrenamtliche der Gemeinschaft helfen auf lokaler Ebene Flüchtlingskindern in "Schulen des Friedens", auch in München. Jugendliche begleiten junge Geflüchtete beim Lernen, auch in Corona-Zeiten. Abwechslung und Unterstützung sind dringend nötig, wenn Familien nach Jahren noch in Gemeinschaftsunterkünften leben.

Zum Konzept von Sant'Egidio gehört, auch die Hilfsbedürftigen zum Helfen zu animieren. "Auch du kannst helfen", sagt Ursula Kalb dann. Das Helfen gebe Freude und Selbstbewusstsein. Also bitten sie Flüchtlingskinder, alten Menschen Briefe zu schreiben, weil sie so einsam im Seniorenheim leben. Oder sie berichten den Gästen in der Mensa vom Leben in Afrika. Ursula Kalb erzählt von einer Frau, die regelmäßig zum Essen komme. "Ich habe immer gedacht, ich bin arm", habe die Frau eines Tages gesagt, als sie Geschichten von Kindern in Malawi gehört habe. "Diese Kinder sind noch viel ärmer als ich es bin." Seither gebe die Frau jedes Mal von ihrem wenigen Geld zwei Euro "für die armen Kinder". Andere zu unterstützen sei wichtig, sagt Ursula Kalb, auch für die, die selbst kaum was haben. "Helfen gibt Würde."


Die Uno von Trastevere
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Auf internationaler Bühne hat sich Sant'Egidio einen Namen in der Diplomatie gemacht. Vertreter der Laiengemeinschaft agieren in internationalen Konflikten als Vermittler. Am bekanntesten sind die Vereinbarungen zwischen den Bürgerkriegsparteien in Mosambik, die mit maßgeblicher Hilfe von Sant'Egidio zustande kamen. Manche nennen die Organisation anerkennend die "Uno von Trastevere". In Afrika kümmert sich Sant'Egidio in vielen Krankenstationen um HIV-Infizierte. Sant'Egidio fördert auch die Ökumene und den Dialog der Religionen. 2009 erhielt der Gründer Andrea Riccardi, ein italienischer Historiker, heute 70 Jahre alt, den Aachener Karlspreis. beka

 

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